Downloads von
backstage - news revisited:

- die woche im überblick 06:
15. bis 21. September 2003
- die woche im überblick 05:
8. bis 14. September 2003
- die woche im überblick 04:
25. bis 31. August 2003
- die woche im überblick 03:
18. bis 24. August 2003
- die woche im überblick 02:
11. bis 17. August 2003
- die woche im überblick 01:
4. bis 10. August 2003

[navigation]

- kontakt

[backstage - project 57 aktuell: 15. Oktober 2003]

[version zum drucken]

LKW-Maut: Deutschland modern
oder ein wegweisendes Inkassoverfahren

VON BERND SCHÖNE

Deutschland hat es geschafft. Die Welt bewundert uns wegen der soeben errungenen EM-Qualifikation und des ersten satellitengestützten Mautsystems der Welt. Mögen Amerikaner, Ungarn und Italiener dumm neben Brücken und Autobahnen die Hand aufhalten, um Wegezoll zu kassieren. Der bundesdeutsche Schulden-Kaiser und Finanzminister Eichel kassiert über das All ab. Zumindest wollte er, denn ähnlich wie beim Transrapid und bei UMTS hält sich die Technik nicht an die politische Beschlusslage. Im Sommer, als der Probebetrieb laut Tagespresse gerade beginnen sollte, fand der interessierte Beobachter im ganzen Toll-Collect-Gebiet emsig vor sich hinschraubende Techniker, die an Kabelbäumen zupften und Schaltschränke schleppten. Probebetrieb vor dem Aufbau? Es kam wie es kommen musste, die erste Verzögerung war da und die nächste folgte sogleich.

Eine Armada von Schwierigkeiten tauchte seit dem Sommer – dem avisierten Starttermin der Satelliten-Maut – aus den Sümpfen der Ingenieurkunst auf. Durchblicken tut mittlerweile niemand mehr, und das scheint kein Zufall, sondern kalkulierte Absicht zu sein. Kaum ein unabhängiger Experte traut sich vors Mikrofon, denn die Informationslage ist so dürftig, dass sich kein Ordinarius sein ordentliches Maul verbrennen möchte. „Bitte zitieren Sie mich nicht“ bittet ein weltbekannter deutscher Wissenschaftler, „ich weiß das meiste auch nur aus der Zeitung, die verraten einem nichts.“ Toll Collect, so der Name der Betreibergesellschaft, hält sich allseitig bedeckt und redet nur, wenn es unbedingt sein muss, wenn also der schöne staatliche Auftrag endgültig flöten gehen könnte. Technische White Papers sind nicht verfügbar und Interviews führt man schon aus generellen Erwägungen nicht. Schon im Vorfeld blieb das Konsortium von DaimlerChrysler, Deutsche Telekom und dem französischen Autobahnbetreiber Cofiroute eher unter sich. Die rund 500 deutschen Experten für Satellitennavigation spürten keinen Nachfragedruck durch Toll Collect. „Die haben fertige Produkte gekauft und anschließend versucht, das Ganze zum Laufen zu bringen“ kommentiert ein Insider. Uns hat keiner gefragt. Es musste eben alles sehr schnell gehen.“ Nach sechsjährigem Zögern von Seiten der Politik fiel Mitte 2002 der Hammer, und Toll Collect wurde aus dem Boden gestampft.

Wenn Datenströme nicht funktionieren

Dabei ist das Konzept hinter Toll Collect nicht wenig anspruchsvoll. Jeder mautpflichtige Meter auf Deutschlands Autobahnen soll erfasst werden. Dazu befindet sich eine kleine Box in der Größe eines Autoradios an Bord jeden LKWs. Eine kleine Antenne auf dem Dach leitet passend dazu ständig die Signale des amerikanischen Satellitennavigationssystems GPS weiter. Die schwarze Box zeichnet die LKW-Koordinaten gewissenhaft mitsamt Uhrzeit auf und sendet die Daten über ein fest eingebautes Mobiltelefon gleich aus dem LKW zur Toll-Collect-Zentrale nach Berlin, in der der Zentralrechner nur noch die Rechnung schreiben muss. Auf den naheliegenden Gedanken, doch einfach ohne Mautbox durch die Gegend zu fahren, sind auch die Toll-Collect-Planer gekommen. An zentralen Punkten kontrollieren Mautbrücken den Verkehr. Die fotografieren zunächst einmal jedes Fahrzeug, registrieren so das Kennzeichen und fragen dann über Infrarot die Mautbox ab. Gibt die keine Antwort, winken freundliche Polizisten den verdächtigen Brummi zur Kontrolle auf den nächsten Parkplatz. Eine Armada von 300 Kontrollfahrzeugen ergänzt die ortsfesten Mautbrücken. Die Kommunikation zwischen Brücke und LKW erfolgt über Infrarot-Strahlen. Die Form der Datenkommunikation und Abrechnung per Datenhandy an Bord des LKWs hat sich in der seit Ende August laufenden Testphase aber als störanfällig erwiesen – die Datenübermittlung klappte nicht.

Vielen Spediteuren blieben die Fehlermeldungen zunächst erspart, denn sie bekamen zunächst einfach keines der Mautgeräte. Die vom insolventen Fernsehproduzenten Grundig in Portugal gefertigten Einbaugeräte kamen spät, erwiesen sich als echte Montagsprodukte und mussten gleich nach dem ersten Einbau wieder als Garantiefall zum Hersteller zurück. Sie waren falsch programmiert und warten nun auf ein Update. Auf Kosten des Konsortiums, wie man Zähne knirschend einräumt. Der Austausch der Fahrzeuggeräte laufe aber jetzt gut und zügig, die Fehlermeldungen gingen stetig zurück, beschönigt ein Firmensprecher von Toll Collect den aktuellen Stand. Die Spediteure fluchen aber nach wie vor über nicht nachvollziehbare Interaktionen der ungeliebten Mautbox mit dem Rest der Bordelektronik, vom Getriebe bis zum Kühlschrank. Dazu kommt, dass die Mautboxen zuviel Strom ziehen. Das weiß man auch bei Toll Collect, man hat dort aber schon einen Schuldigen gefunden: die mangelnde Beachtung der Einbauanleitung. „Es ist wichtig, dass die Service-Partner die Einbauanweisungen gewissenhaft verfolgen und insbesondere bei der Montage der GPS-Antenne auf ausreichend Abstand zu anderen (GPS-) Antennen achten.“ So lautet klipp und klar die Auskunft von Toll Collect.

Was tun?

Die Haftungsfrage für die entgangenen Einnahmen ist mitten in den neuesten Höhepunkten der Staatsverschuldung so unklar wie der nächste avisierte Starttermin des Mautsystems, mit dem deutsche Ingenieurkunst die Welt erobern wollte. Selbst die Parlamentarier kennen die Verträge nicht. „Die Manager haben die unrealistischen Termine nur akzeptiert, weil sie keine Strafen zu befürchten hatten„, mutmaßt ein Kenner der Szene, „keiner hat an den Sommer 2003 als Start für den Probebetrieb geglaubt“. Indirekt gibt Toll Collect den Kritikern recht: Es gebe keine Grundlage für Schadenersatzforderungen und deshalb auch keine Gespräche darüber. Die notwendigen Vereinbarungen zu Pönalen sind vertraglich geregelt, lässt die Firma auf Anfrage wissen. Damit dürfte ja klar sein, warum deutsche Wertarbeit diesem Härtetest ausgesetzt wird. Je eher das System echt ans Laufen kommt, desto größer sind die Chancen auf Anschlussaufträge. Eine EU-Direktive sieht vor, dass bis 2010 eines der auf dem Markt befindlichen Mautsysteme Standard in Euroland wird. Das wird Toll Collect doch wohl schaffen. Zumal es ja um Höheres geht: Das deutsche Lieblingsmotto „Freie Fahrt dem freien Bürger“ hat fürs erste die Einführung simpler Zollschranken nach italienischem oder französischen Muster auf unseren Autobahnen verhindert. Sollte der Staat doch einmal eine weitere Einnahmequelle benötigen, dann liesse sich das System von Toll Collect praktisch über Nacht auch auf den privaten Autoverkehr übertragen. Einnahmen kassieren von jedem ohne Anzuhalten! Das sollen uns die Franzmänner oder Itaker erst einmal nachmachen!


Toll Collect über Toll Collect:

„In Deutschland wurde aus Gründen der Nutzerfreundlichkeit und der Flexibilität auf die Einführung eines klassischen Mautsystems verzichtet. Mautstationen bedeuteten umfangreiche Straßenbaumaßnahmen und die Beeinträchtigung des Verkehrsflußes. Das automatische Mautsystem rechnet im Unterschied zu den meisten herkömmlichen Vignetten-Systemen kilometergenau ab und ist diskriminierungsfrei. Das heißt: Ausländische und inländische Benutzer werden gleichermaßen an den Kosten für die deutschen Autobahnen beteiligt – und abgerechnet wird nur das, was tatsächlich gefahren worden ist. Das System ist mit den elektronischen Mautsystemen anderer europäischer Staaten kompatibel.“

Toll Collect über die Mautbrücken:

„Die Kontrollbrücken der automatischen Kontrolle überspannen die gesamte Fahrbahn und ermitteln während der Durchfahrt eines Fahrzeuges, ob es mautpflichtig ist und ob die Maut ordnungsgemäß bezahlt wurde. Jedes Fahrzeug, das sich der Kontrollbrücke nähert, wird über eine Detection- und Trackingeinheit erfasst. Es wird ermittelt, auf welcher Spur und zu welchem genauen Zeitpunkt das Fahrzeug die Brücke passiert, damit die Klassifikation exakt erfolgen kann. Nach Erkennung des Fahrzeugs wird festgestellt, ob es mautpflichtig ist – also ob es ein zulässiges Gesamtgewicht von mindestens 12 Tonnen hat. Dazu wird jedes Fahrzeug drei-dimensional gescannt. Die Auswertungstechnik erkennt dann anhand der Fahrzeugkontur, ob eine Mautpflicht vorliegt und wie viele Achsen das Fahrzeug hat. Liegt keine Mautpflicht vor, werden die Daten sofort gelöscht.

Die Brücke prüft über DSRC (Infrarot-Kurzstrecken-Kommunikation), ob das Fahrzeug am automatischen System teilnimmt und das Fahrzeuggerät korrekt aktiviert wurde. Liegt bei einem mautpflichtigen Fahrzeug kein Infrarot-Signal vor, handelt es sich um eine manuelle Einbuchung oder einen Mautverstoß. Um dies zu klären, wird das Kennzeichen jedes Fahrzeugs über eine Infrarot-Kamera aufgenommen und in der Toll-Collect-Zentrale mit dem eingebuchten Kennzeichen abgeglichen. (Bei einer manuellen Einbuchung über Internet oder Mautstellen-Terminal muss das Kennzeichen angegeben werden). Dieser Vorgang dauert nur Sekunden. Liegt eine ordnungsgemäße Einbuchung vor, werden die Daten des Fahrzeugs sofort gelöscht. Bei Mautverstößen werden die Daten hingegen an das BAG (Bundesamt für Güterverkehr) weitergeleitet, das dann ein Bußgeldverfahren einleitet.“


Merkwürdigkeiten über Merkwürdigkeiten

Toll-Collect funktioniert nicht, das ist das einzige, was man mit Sicherheit über das himmlische Inkassosystem sagen kann. Täglich kommen mehr Merkwürdigkeiten ans Tageslicht. Gegen Toll-Collect-Chef Michael Rummel wurden Amigo-Vorwürfe laut. Er hatte einer winzigen Paderborner Software-Schmiede mit 2,6 Millionen Euro Jahresumsatz den Auftrag erteilt, für die 400.000 Mautgeräte in den LKWs die Software zu schreiben. Im Aufsichtsrat eben dieser Firma war der Chef von Toll Collect, Michael Rummel.

Trotz vorhandener Schnittstellen funktioniert Toll Collect zudem nicht in Ländern wie Spanien oder Österreich, weil wegen eines vergessenen Software-Moduls die LKW-Boxen nicht mit den dortigen Mautsystemen kommunizieren können. Und wie sieht es mit der Integrität der GPS-Daten selbst aus? GPS, soweit ist bekannt, kann durch Fehlfunktionen falsche Werte liefern. Autobahn-Knete für Schotterstrecken, heißt das in der Praxis. Deshalb ist GPS bei Flugzeugen auch nicht zur alleinigen Positionsbestimmung zugelassen, sondern nur bei Bomben. Am europäischen EGNOS-System (EGNOS = European Geostationary Navigation Overlay Service; eine Art GPS-Qualitätsmonitor über zusätzliche Satelliten) will sich Toll Collect zunächst nicht beteiligen. Man setzt auf andere Lösungen. Durch die Kopplung der GPS-Funktion des Fahrzeuggeräts mit Tachometer und Gyroskop können lokale Differenzen erkannt und Fehlerkennungen vermieden werden, heißt es bei Toll Collect. Musterprozesse könnten diese Haltung ändern. Schon im Testbetrieb fanden Nutzer Maut-Abrechnungen für kostenfreie Privatstrassen vor. Schuld daran können fehlerhaftes GPS oder schlechtes Kartenmaterial sein. „Die haben nicht für teures Geld die elektronischen Karten von den Landesvermessungsämtern gekauft, sondern die vorhandenen elektronischen Straßenkarten lizenziert“, so ein Insider. „Diese Karten wurden vor einigen Jahren vom analogen Kartenmaterial einfach abgescannt. Bei analogen Karten werden zur besseren Sichtbarkeit eng zusammenliegende Strassen etwas weiter voneinander entfernt eingezeichnet, als es dem Maßstab entsprechen würde.“

Inzwischen hat man sich zu dem Üblichen durchgerungen – „personelle Konsequenzen“ (Rummel wurde gefeuert, die Managementspitze umstrukturiert) sollen von den inhaltlichen Fehlern und den falschen Entscheidungen ablenken.